Die ständige Rechtsprechung des EGMR - Verletzung von Art. 8 EMRK

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EGMR-Urteil Italien vom 07.10.2021

Verstöße gegen Art. 8 EMRK - Eltern-Kind-Entfremdung

2021-10-07_EGMR TM gg Italien Urteil De

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ERSTER ABSCHNITT

FALL T.M. / ITALIEN

(Antragsnummer.

29786/19)

URTEIL

STRASBOURG

7. Oktober 2021

 

URTEIL T.M. / ITALIEN

In der Rechtssache T.M. gegen Italien hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Erste Sektion) in seiner Eigenschaft als Ausschuss, bestehend aus : Péter Paczolay, Präsident, Gilberto Felici, Raffaele Sabato, Richter, und Liv Tigerstedt, stellvertretende Sektionskanzlerin, gestützt auf die am 28. Mai 2009 beim Gerichtshof eingereichte Klage (Nr. 29786/19) von T.M. gegen die Italienische Republik (im Folgenden: Beschwerdeführer), hat am 28. Mai 2019 beim Gerichtshof eine Beschwerde nach Artikel 34 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: Konvention) eingereicht, den Beschluss, die italienische Regierung (im Folgenden: Regierung) von der Beschwerde in Kenntnis zu setzen, die Erklärungen der Parteien, den Beschluss, die Identität des Beschwerdeführers nicht bekannt zu geben, nach Beratung in der Kammer am 14. September 2021 erlässt das Gericht das folgende Urteil, das an diesem Tag erlassen wurde:

 

EINLEITUNG

 

1. Der Antrag betrifft die angebliche Unfähigkeit des Antragstellers, sein Umgangsrecht unter den von den Gerichten festgelegten Bedingungen auszuüben. Er sieht darin einen Verstoß gegen sein Recht auf Achtung seines Familienlebens.

 

TATSACHEN

2. Der Kläger wurde 1951 geboren und lebt in Monforte San Giorgio. Vertreten wurde er von Rechtsanwalt C. Padalino.

 

3. Die Regierung wurde durch ihren Bevollmächtigten, Herrn L. D'Ascia, den Anwalt des Staates, vertreten.

 

4. Am 21. August 2003 bekamen der Antragsteller und A.L.R. eine Tochter, M. Im Januar 2007 trennten sich der Antragsteller und A.L.R.. Während der ersten Zeit der Trennung konnte der Antragsteller sein Umgangsrecht ausüben und das Kind sehen.

 

5. Am 4. Mai 2007 erstattete A.L.R. Anzeige gegen den Antragsteller wegen Körperverletzung und Bedrohung. Am 1. Juni 2007, einige Tage vor der geplanten Konfrontation mit dem Kläger, zog A.L.R. ihre Beschwerde zurück.

 

6. Ab dem 8. September 2008 lehnte A.L.R. die Treffen zwischen dem Antragsteller und dem Kind ab.

 

7. Am 15. Oktober 2008 erhob A.L.R. Klage vor dem Jugendgericht Messina (im Folgenden: Gericht). Sie beantragte das alleinige Sorgerecht für das Kind und die Regelung des Umgangsrechts für den Antragsteller. Während des Verfahrens beantragte sie außerdem, dem Antragsteller die elterliche Sorge zu entziehen.

 

8. Der Kläger reichte in diesem Verfahren eine Klageschrift ein, in der er sich darüber beklagte, dass er seit dem 8. September 2008 nicht mehr in der Lage gewesen sei, sein Umgangsrecht auszuüben. Er beantragte insbesondere das gemeinsame Sorgerecht für seine Tochter, die Regelung seines Umgangsrechts und die Unterbringung seiner Tochter bei dem am besten geeigneten Elternteil unter Berücksichtigung des Kindeswohls.

 

9. Am 28. November 2008 reichte A.L.R. eine Klage gegen den Kläger wegen Verletzung der Verpflichtungen zur Familienhilfe ein.

 

10. Mit Beschluss vom 10. März 2009 ordnete das Jugendgericht, nachdem es festgestellt hatte, dass das Kind durch die Beziehung zum Antragsteller keinen Schaden erlitten hatte, das gemeinsame Sorgerecht für das Kind an, legte den Hauptwohnsitz des Antragstellers bei A.L.R. fest und gewährte dem Antragsteller ein Besuchsrecht an zwei Nachmittagen pro Woche und an jedem zweiten Wochenende sowie an zwanzig Tagen in den Sommerferien.

 

11. Am 8. Mai 2009 beantragte der Antragsteller mit der Begründung, A.L.R. behindere ihn bei der Ausübung seines Umgangsrechts, eine Eilentscheidung zu erlassen, um ihm zu gestatten, sein Kind unter den vom Gericht in seiner früheren Entscheidung festgelegten Bedingungen zu sehen.

 

12. Am 24. Juli 2009 legte der Antragsteller angesichts der Tatsache, dass er seine Tochter nicht sehen konnte, beim Vormundschaftsrichter von Messina Beschwerde ein und bat ihn, einzuschreiten, um ihm zu ermöglichen, sein Umgangsrecht auszuüben und seine Tochter zu sehen.

 

13. Am 27. Juli 2009 beantragte der Antragsteller beim Gericht, A.L.R. zu bestrafen, damit sie die Ausübung seines Umgangsrechts nicht länger behindert.

 

14. Am 27. August 2009 stellte der Vormundschaftsrichter fest, dass die Parteien einer Familienmediation zugestimmt hatten.

 

15. Im September 2009 zog A.L.R. ohne vorherige Genehmigung des Antragstellers oder des Gerichts nach Mailand, mehr als tausend Kilometer vom Wohnort der Klägerin entfernt.

 

16. Am 2. Oktober 2009 erhob der Antragsteller erneut Klage bei Gericht mit der Begründung, dass A.L.R. ohne seine Zustimmung umgezogen sei und es ihm daher unmöglich sei, seine Tochter zu sehen. Er bat das Gericht um eine Eilentscheidung, um ihm das Sorgerecht für das Kind zuzusprechen und A.L.R. auf der Grundlage von Artikel 709 ter der Zivilprozessordnung zu bestrafen.

 

17. Am 19. November 2009 bestätigte das Gericht von Messina seine frühere Entscheidung vom März 2009 und wies die Sozialämter von Messina und Mailand an, die Situation der Familie zu überwachen. Es stellte fest, dass sich A.L.R., die sich gegen die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter wandte, in einer Weise verhielt, die der Tochter schadete. Folglich ordnete sie an, dass A.L.R. den Entscheidungen des Gerichts Folge zu leisten habe, da sonst die Aussetzung und/oder der Entzug der elterlichen Sorge drohe.

 

18. Im Jahr 2009, während der Weihnachtsfeiertage, bat der Antragsteller die Polizei, einzugreifen, um ihm ein Treffen mit seiner Tochter zu ermöglichen.

 

19. Am 17. Februar 2010 teilte der Sozialdienst von Messina dem Gericht mit, dass zwei Treffen stattgefunden haben: eines am 31. Dezember 2009 und das andere am 1. Januar 2010. Bei dem letztgenannten Treffen hatte sich das Kind angeblich geweigert, mit dem Antragsteller auszugehen.

 

20. Die Sozialdienste in Mailand begannen im Juli 2010 mit der Überwachung der Familie. Nachdem sie das Kind fünfmal getroffen hatten, teilten sie dem Gericht am 3. Dezember 2010 mit, dass die Voraussetzungen für die Organisation von Treffen mit dem Antragsteller und seiner Tochter nicht erfüllt seien, weil diese sich weigere.

 

21. Am 9. Dezember 2010 legten die Sozialdienste einen weiteren Bericht vor, in dem sie auf "die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Mutter, Vater und Kind hinwiesen, die sich inzwischen verfestigt hat, ohne dass ein spezialisierter Dienst eingreift, um die Probleme klar zu erkennen, sie zu lösen und nützliche Ressourcen zu ihrer Überwindung zu mobilisieren". In dem Bericht wurde festgestellt, dass das Gericht von Messina in seiner Entscheidung vom 19. November 2009 die Sozialdienste nicht angewiesen hatte, ein Sachverständigengutachten zu erstellen, um die psychologische Eignung der Familienmitglieder beurteilen zu können.

 

22. Am 9. Juni 2011 beantragte der Antragsteller beim Jugendgericht Mailand die sofortige Wiederaufnahme des Umgangs zwischen ihm und seiner Tochter sowie eine spezielle psychologische Betreuung für die Eltern und das Kind.

 

23. Am 17. November 2011 wies der Ermittlungsrichter die Beschwerde von A.L.R. zurück. Er stellte fest, dass der Antragsteller sich weder gewalttätig verhalten noch die körperliche oder sittliche Unversehrtheit des Kindes beeinträchtigt hatte und dass er sich nicht seinen Pflichten entzogen hatte. Er fügte hinzu, dass die durchgeführten Ermittlungen nicht ergeben hätten, dass der Antragsteller irgendwelche Gewalttaten gegen A.L.R. begangen habe.

 

24. Am 8. November 2011 wies das Mailänder Gericht den Sozialdienst an, die Familie zu überwachen.

 

25. Am 15. Februar 2012 forderte der Antragsteller das Kindergericht auf, eine psychosoziale Untersuchung anzuordnen, um die Situation des Kindes zu überprüfen und die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Eltern psychologisch zu begleiten.

 

26. Am 10. Juli 2012 legte der Sozialdienst einen Bericht über die Erziehungsfähigkeit des Antragstellers vor. Sie erklärten sich bereit, auf die Wiederaufnahme der Beziehung zwischen ihm und seiner Tochter hinzuarbeiten.

 

27. In der Anhörung vom 4. Dezember 2012 erklärte der Antragsteller, dass er seine Tochter seit vier Jahren nicht mehr gesehen habe, und beantragte die Wiederaufnahme des Kontakts mit ihr. Das Gericht vertagte die Anhörung auf den 14. Mai 2013.

 

28. Am 21. März 2013 teilte der Antragsteller dem Gericht mit, dass die Sozialdienste sich weigerten, Treffen zu organisieren, solange kein förmlicher Gerichtsbeschluss vorliege.

 

29. In der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2013 beantragte der Antragsteller erneut eine Entscheidung zugunsten der Wiederherstellung des Umgangs zwischen ihm und seiner Tochter.

 

30. Am 31. Oktober 2013 reichte der Antragsteller beim Mailänder Gericht einen dritten Eilantrag ein.

 

31. Am 4. November 2013 wies das Gericht den Mailänder Sozialdienst an, beide Eltern und das Kind zu begleiten, um den Kontakt zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter wiederaufzunehmen.

 

32. Nach drei Treffen mit dem Kind (am 8. und 18. Februar 2014 sowie am 21. März 2014) teilte der Sozialdienst in Mailand dem Gericht am 7. April 2014 mit, dass das Kind sich geweigert habe, den Antragsteller zu sehen.

 

33. Am 23. Mai 2014 wurde dieser Fall vor dem Kindergericht verhandelt. Sie bestätigte, dass sie ihren Vater nicht treffen wollte.

 

34. Am 4. Mai 2015 sprach das Gericht A.L.R. das alleinige Sorgerecht für das Kind zu, setzte den Umgang mit dem Antragsteller aus und wies den Sozialdienst an, eine psychologische Betreuung für das Kind zu beginnen.

 

35. Am 13. Mai 2015 legte der Antragsteller gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und beantragte den Erlass von Sofortmaßnahmen, um zu verhindern, dass er aus dem Leben seiner Tochter gestrichen wird. Er beantragte außerdem, dass das Kind, er selbst und A.L.R. einem Sachverständigengutachten unterzogen werden.

 

36. Das Berufungsgericht setzte die erste Anhörung sechs Monate später, am 14. Januar 2016, an. An diesem Tag vertagte es die Anhörung erneut auf Mai 2016 mit der Begründung, dass der Sozialdienst seinen Bericht noch nicht vorgelegt habe.

 

37. Am 22. Januar 2016 nahm der Sozialdienst die Weigerung des Minderjährigen, den Antragsteller zu treffen, zur Kenntnis.

 

38. In der mündlichen Verhandlung vom 20. Mai 2016 forderte das Berufungsgericht die Parteien angesichts ihrer Bereitschaft in der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2016 auf, an einem Familienmediationskurs teilzunehmen.

 

39. Am 17. November 2016 beantragte der Antragsteller beim Berufungsgericht, dringende Maßnahmen zur Vollstreckung der Entscheidung vom 20. Mai 2016 zu ergreifen.

 

40. Am 9. Dezember 2016 gab der Sozialdienst von Mailand, der den Antragsteller nicht getroffen hatte, eine negative Stellungnahme zur Einrichtung eines Kurses für Familienmediation ab.

 

41. Am 19. Januar 2017 wies das Berufungsgericht die Berufung des Antragstellers zurück und bestätigte die Entscheidung des Gerichts. Es stellte fest, dass der Antragsteller und A.L.R. nicht in der Lage waren, ihr Verhalten zu überdenken und die Hilfe der Sozialdienste in Anspruch zu nehmen, dass sie nicht in der Lage waren, die Bedürfnisse des anderen zu verstehen und zu entscheiden, welche Zukunft sie für ihre Tochter wollten. Sie stellte fest, dass die Tochter an der Ablehnung der Vaterfigur arbeiten müsse. Sie war der Ansicht, dass der Antragsteller und A.L.R. ihre erzieherische Verantwortung nicht wahrgenommen haben. Sie lehnte den Antrag auf Zwangsmaßnahmen gegen A.L.R. ab und forderte die Parteien auf, einen Prozess der Reflexion über ihr Verhalten einzuleiten.

 

42. Am 22. Juni 2017 legte der Antragsteller beim Obersten Gerichtshof Berufung ein. Er beschwerte sich, dass das Recht seines Kindes auf gemeinsame Elternschaft verletzt worden sei und behauptete, dass keine Zwangsmaßnahmen gegen A.L.R. ergriffen worden seien, um ihr hinderliches Verhalten zu beenden.

 

43. Am 28. November 2018 wies der Kassationsgerichtshof die Berufung des Antragstellers zurück. Es berücksichtigte die Weigerung des Kindes, seinen Vater zu treffen, die Entfernung zwischen den beiden Wohnorten und die Unfähigkeit der Parteien, eine Lösung für ihre konfliktreiche Situation zu finden. Sie verwies insbesondere darauf, dass das Gericht und das Berufungsgericht das Umgangsrecht des Antragstellers zu Recht bis zum Abschluss des Beratungsprozesses zwischen den Parteien ausgesetzt hätten.

 

 

DER EINSCHLÄGIGE NATIONALEN RECHTSRAHMEN

 

44. Das einschlägige innerstaatliche Recht ist im Urteil Strumia gegen Italien (Nr. 53377/13, §§ 73-78, 23. Juni 2016) beschrieben.

 

45. Nach Artikel 337 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat ein minderjähriges Kind das Recht auf eine ausgewogene und kontinuierliche Beziehung zu jedem seiner Elternteile, auf Pflege, Erziehung und moralischen Beistand durch beide Elternteile und auf sinnvolle Beziehungen zu den Verwandten in aufsteigender Linie und zu den Verwandten jedes Elternteils. Nach dem zweiten Absatz desselben Artikels trifft der Richter zur Erreichung des im ersten Absatz genannten Ziels in den Verfahren nach Artikel 337bis des Zivilgesetzbuchs Maßnahmen in Bezug auf die Nachkommen, die sich ausschließlich auf deren moralische und materielle Interessen beziehen. Der Richter berücksichtigt vorrangig die Möglichkeit, dass die minderjährigen Kinder in der Obhut beider Elternteile verbleiben, oder entscheidet andernfalls, wem die Kinder anvertraut werden, und bestimmt die Zeit und die Art und Weise ihrer Anwesenheit bei jedem Elternteil sowie den Umfang und die Art und Weise, in der jeder der Elternteile zum Unterhalt, zur Pflege, zur Erziehung und zum Unterricht der Kinder beiträgt. Der Richter kann die Sorgerechtsregelung ändern und die verschiedenen zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarungen zur Kenntnis nehmen. Der Richter ist für die Umsetzung von Entscheidungen über das Sorgerecht zuständig und kann auch von Amts wegen in Pflegefamilienfällen tätig werden. Zu diesem Zweck übermittelt die Staatsanwaltschaft dem Vormundschaftsrichter eine Kopie der Unterbringungsentscheidung.

 

 

GESETZ

 

I. ÜBER DIE ANGEBLICHE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

 

46. Der Antragsteller beschwerte sich über eine Verletzung seines Rechts auf Achtung seines Familienlebens und machte geltend, dass er sein Umgangsrecht seit zwölf Jahren nicht in vollem Umfang habe ausüben können, obwohl es mehrere Gerichtsentscheidungen gab, in denen die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts festgelegt waren. Er warf den inländischen Behörden vor, dass sie keine Maßnahmen ergriffen hätten, um die Verbindung zu seiner Tochter aufrechtzuerhalten, und dass sie dadurch der Mutter des Kindes Zeit gegeben hätten, ihr Kind gegen ihn aufzubringen. Er beschwerte sich darüber, dass die Behörden es versäumt hätten, auf das Verhalten von A.L.R. zu reagieren. Sie hätten sich nicht bemüht und keine Maßnahmen ergriffen, um ihm die Ausübung seines Umgangsrechts zu ermöglichen, und sie hätten nicht darauf reagiert, dass die Mutter die Entscheidungen, die ihr das Umgangsrecht gewährten, nicht befolgt habe. Der Antragsteller beschwerte sich auch über die Dauer des Verfahrens, die er für übermäßig lang hielt. Artikel 8 des Übereinkommens lautet wie folgt

"Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nicht eingreifen, es sei denn, der Eingriff steht im Einklang mit dem Gesetz und ist in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen oder öffentlichen Sicherheit oder des wirtschaftlichen Wohls des Landes, zur Verhütung von Unruhen oder Verbrechen, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig.

 

A. Zur Zulässigkeit

 

 

47. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Klage nicht offensichtlich unbegründet oder aus einem anderen Grund nach Artikel 35 der Konvention unzulässig war, und erklärte sie für zulässig.

 

 

B. Zur Sache selbst

 

1. Vorbringen der Parteien

 

a) Der Antragsteller

 

48. Der Antragsteller gibt an, dass er eine gute Beziehung zu seinem Kind hatte, bevor A.L.R. ein hinderliches Verhalten an den Tag legte und sich jeder Beziehung widersetzte, indem er unter anderem ohne seine Zustimmung mehr als tausend Kilometer weit wegzog und Treffen verhinderte.

 

49. Er macht geltend, dass die Sozialdienste in Mailand, die mit den Sozialdiensten in Messina hätten zusammenarbeiten müssen, sich nur dreimal mit dem Kind getroffen und sich gegen die Wiederaufnahme des Umgangs entschieden haben, weil sie sich weigerte.

 

50. Er führte aus, dass die Behörden es zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens für erforderlich gehalten hätten, einen Sachverständigen zur Beurteilung des psychischen Zustands des Kindes zu bestellen, obwohl sie die Schwierigkeiten in der Beziehung zwischen dem Kind und seinem Vater erkannt hätten. Er fügte hinzu, dass die Mailänder Sozialdienste das Kind zwischen 2009 und 2018 (d. h. über einen Zeitraum von neun Jahren) nur acht Mal getroffen haben (fünf Mal zwischen September und November 2010 und drei Mal zwischen Februar und März 2014).

 

51. Der Antragsteller ist der Ansicht, dass die Sozialdienste in Mailand die Gerichtsentscheidungen nicht ordnungsgemäß ausgeführt haben. Die Treffen seien nämlich im Vergleich zu den Zeitpunkten, an denen die gerichtlichen Entscheidungen ergangen seien (Entscheidung des Gerichts Messina vom 19. November 2009 und Entscheidung des Gerichts Mailand vom 4. November 2013), verspätet abgehalten worden; die Zahl dieser Treffen sei äußerst gering gewesen; die Sozialdienste hätten die von den zuständigen Justizbehörden empfohlenen Maßnahmen, die ihm die Wiedervereinigung mit seiner Tochter ermöglichen sollten, nicht wirklich umgesetzt; sie hätten lediglich die Weigerung des Kindes, seinen Vater zu treffen, anerkannt und A. jahrelang geduldet. Die Weigerung von L.R., den beiden Gerichtsentscheidungen nachzukommen.

 

52. Der Kläger macht außerdem geltend, dass die Gerichte in ungerechtfertigter Weise zu spät entschieden hätten. Insbesondere erklärte er, dass es trotz der von ihm eingereichten Eilanträge zu einer Verzögerung von zwei Jahren vor dem Mailänder Jugendgericht und von eineinhalb Jahren vor dem Berufungsgericht gekommen sei. Seiner Ansicht nach hätte eine Entscheidung, die seine Rechte nach Artikel 8 der Konvention berührt, mit größerer Sorgfalt und Schnelligkeit getroffen werden müssen.

 

53. Schließlich wies der Antragsteller darauf hin, dass er seine Tochter seit 2009 nicht mehr gesehen habe.

 

b) Der Staat – die Regierung

 

54. Nach Ansicht der Regierung kann den italienischen Behörden nicht vorgeworfen werden, dass sie nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben. Der Sozialdienst habe mehrfach interveniert, um den Kontakt zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter zu erleichtern, und habe die Weigerung der Tochter, den Antragsteller zu sehen, berücksichtigt.

 

55. Er machte außerdem geltend, dass die häuslichen Entscheidungen im Interesse des Kindes getroffen worden seien. Er vertrat die Auffassung, dass die plötzliche Beendigung der Beziehung zwischen dem Kind und der Mutter, bei der es lebte, für ein Kind unter fünf Jahren ein Trauma darstellt, das nicht allein zu dem Zweck zugefügt werden darf, die Wirksamkeit der Treffen mit seinem Vater zu gewährleisten.

 

56. In Anbetracht der Umstände des Falles sei es nicht möglich, von den inländischen Behörden eine andere Haltung zu verlangen, insbesondere im Hinblick auf das Wohl des Kindes und in Anbetracht der Tatsache, dass alle getroffenen Maßnahmen geändert werden könnten.

 

57. Die Regierung erklärte, dass die Sozialdienste im Zeitraum von 2008 bis 2011 die Entscheidungen des Gerichts von Messina befolgt hätten, und behauptete, dass A.L.R. den Kläger mit zwei Einschreiben über seine Absicht informiert habe, nach Mailand zu ziehen. Er fügte hinzu, dass der Antragsteller nicht nach Mailand gereist sei, um das Kind zu treffen.

 

58. In Bezug auf die Mailänder Sozialdienste erklärte die Regierung, sie seien tätig geworden, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für ein Treffen erfüllt seien, und hätten den Widerstand des Kindes gegen den Kontakt mit seinem Vater geprüft.

 

59. Schließlich heißt es, dass das Mailänder Gericht zum Schutz des Kindeswohls am 4. Mai 2015 A.L.R. das alleinige Sorgerecht für das Kind zusprach, aber den Sozialdienst beauftragte, das Kind psychologisch zu betreuen, um seine Beziehung zur Vaterfigur zu analysieren. Diese Entscheidung wurde angeblich im Interesse des Kindes getroffen.

 

2. Die Bewertung des Gerichtshofes

 

a) Allgemeine Grundsätze

 

60. Wie der Gerichtshof wiederholt in Erinnerung gerufen hat, zielt Artikel 8 der Konvention zwar im Wesentlichen darauf ab, den Einzelnen vor willkürlichen Eingriffen der öffentlichen Hand zu schützen, verlangt aber nicht nur, dass der Staat solche Eingriffe unterlässt: Zu dieser eher negativen Verpflichtung können noch positive Verpflichtungen hinzukommen, die sich aus der tatsächlichen Achtung des Privat- oder Familienlebens ergeben. Dies kann die Verabschiedung von Maßnahmen beinhalten, die darauf abzielen, das Familienleben auch in den Beziehungen zwischen den einzelnen Personen zu respektieren, einschließlich der Schaffung eines angemessenen und ausreichenden rechtlichen Instrumentariums, um die legitimen Rechte der betroffenen Personen und die Einhaltung gerichtlicher Entscheidungen zu gewährleisten, oder geeignete spezifische Maßnahmen (siehe mutatis mutandis, Zawadka gegen Polen, Nr. 48542/99, § 53, 23. Juni 2005). Dieses Arsenal muss es dem Staat ermöglichen, Maßnahmen zu ergreifen, um den Elternteil mit dem Kind zusammenzuführen, auch in Fällen von Konflikten zwischen den beiden Elternteilen (siehe mutatis mutandis, Ignaccolo-Zenide v. Rumänien, Nr. 31679/96, § 108, EGMR 2000-I, Sylvester gegen Österreich, Nr. 36812/97 und 40104/98, § 68, 24. April 2003, Zavřel gegen die Tschechische Republik, Nr. 14044/05, § 47, 18. Januar 2007, und Mihailova gegen Bulgarien, Nr. 35978/02, § 80, 12. Januar 2006). Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass sich die positiven Verpflichtungen nicht darauf beschränken, dem Kind den Umgang mit seinem Elternteil zu ermöglichen, sondern auch alle vorbereitenden Maßnahmen umfassen, um dieses Ergebnis zu erreichen (siehe entsprechend Kosmopoulou gegen Griechenland, Nr. 60457/00, § 45, 5. Februar 2004, und Amanalachioai gegen Rumänien, Nr. 4023/04, § 95, 26. Mai 2009, Ignaccolo-Zenide, a.a.O., §§ 105 und 112, und Sylvester, a.a.O., § 70).

 

61. Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass die Tatsache, dass die Bemühungen der Behörden vergeblich waren, nicht automatisch zu der Schlussfolgerung führt, dass der Staat seinen positiven Verpflichtungen nach Artikel 8 der Konvention nicht nachgekommen ist (Nicolò Santilli gegen Italien, Nr. 51930/10, § 67, 17. Dezember 2013). Die Verpflichtung der nationalen Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, um das Kind mit dem Elternteil zusammenzuführen, bei dem es nicht lebt, ist nämlich nicht absolut, und das Verständnis und die Zusammenarbeit aller Beteiligten ist immer ein wichtiger Faktor. Die nationalen Behörden müssen sich zwar bemühen, eine solche Zusammenarbeit zu erleichtern, sind aber nur in begrenztem Umfang verpflichtet, in dieser Hinsicht Zwang auszuüben: Sie müssen die Interessen sowie die Rechte und Freiheiten derselben Personen berücksichtigen, einschließlich des Kindeswohls und der Rechte des Kindes nach Artikel 8 des Übereinkommens (Voleský gegen die Tschechische Republik, Nr. 63267/00, § 118, 29. Juni 2004).

 

62. In Bezug auf das Familienleben eines Kindes erinnert der Gerichtshof daran, dass inzwischen ein breiter Konsens - auch im internationalen Recht - darüber besteht, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, ihr Wohl im Vordergrund stehen muss (siehe u. a. Neulinger und Shuruk gegen die Schweiz [GC], Nr. 41615/07, § 135, EMRK 2010). Er betont ferner, dass in Fällen, in denen es um Fragen der Unterbringung von Kindern und um Umgangsbeschränkungen geht, die Interessen des Kindes Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müssen (Strand Lobben und andere gegen Norwegen [GC], Nr. 37283/13, § 204, 10. September 2019). Bei der Anwendung von Zwang in diesem sensiblen Bereich ist äußerste Vorsicht geboten (Mitrova und Savik gegen die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 42534/09, § 77, 11. Februar 2016, und Reigado Ramos gegen Portugal, Nr. 73229/01, § 53, 22. November 2005). Entscheidend ist daher, ob die nationalen Behörden im vorliegenden Fall alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um Besuche zwischen dem Elternteil und dem Kind zu erleichtern (Nuutinen/Finnland, Nr. 32842/96, § 128, EGMR 2000-VIII).

 

b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

 

63. Was den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache anbelangt, so ist der Gerichtshof der Ansicht, dass er unter den vorliegenden Umständen zu prüfen hat, ob die nationalen Behörden alle Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden konnten, um die Beziehungen zwischen dem Kläger und seiner Tochter aufrechtzuerhalten (Urteil Bondavalli v. Italien, Nr. 35532/12, § 75, 17. November 2015) und die Art und Weise zu prüfen, in der sie zur Erleichterung der Ausübung des Umgangsrechts des Klägers im Sinne der Gerichtsentscheidungen (Hokkanen gegen Finnland, 23. September 1994, § 58, Serie A Nr. 299-A, und Kuppinger gegen Deutschland, Nr. 62198/11, § 105, 15. Januar 2015) tätig geworden sind. Er erinnert auch daran, dass in einem solchen Fall die Angemessenheit einer Maßnahme anhand der Geschwindigkeit ihrer Umsetzung beurteilt wird (Piazzi/Italien, Nr. 36168/09, § 58, 2. November 2010), da allein der Zeitablauf Auswirkungen auf die Beziehung eines Elternteils zu seinem Kind haben kann.

 

64. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Antragsteller ab 2008, als das Kind erst fünf Jahre alt war, immer wieder das Gericht ersuchte, Treffen zu arrangieren, dass er aber wegen des Widerstands der Mutter sein Umgangsrecht nur in sehr begrenztem Umfang ausüben konnte.

 

65. Zwischen März 2009 und August 2009 stellten das Gericht in Messina und der Vormundschaftsrichter fest, dass der Antragsteller keinen Zugang zu seiner Tochter hatte und dass A.L.R. sich weiterhin Treffen zwischen dem Antragsteller und dem Kind widersetzte.

 

66. Nachdem die Mutter des Kindes ohne die Zustimmung des Antragstellers und der Gerichte in eine andere, etwa 1.000 Kilometer entfernte Stadt gezogen war, konnte der Antragsteller seine Tochter ab Oktober 2009 nicht mehr treffen, insbesondere weil die Mutter sich weigerte, Treffen zu vereinbaren, und das Kind sich dagegen wehrte. Es wurde kein Sachverständigengutachten über die elterlichen Fähigkeiten von A.L.R. und dem Antragsteller in Auftrag gegeben, und es wurde keine psychologische Untersuchung des Minderjährigen durchgeführt.

 

67. Das Gericht weist darauf hin, dass das Gericht von Messina am 19. November 2009 die Sozialämter von Messina und Mailand angewiesen hat, die Situation der Familie zu überwachen, und festgestellt hat, dass A.L.R. sich in einer Weise verhalten hat, die dem Kind schadet, da sie sich der Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter widersetzt hat. Das Gericht ordnete an, dass A.L.R. den Entscheidungen des Gerichts Folge zu leisten habe, andernfalls drohe die Aussetzung und/oder der Entzug der elterlichen Sorge.

 

68. Der Sozialdienst in Mailand, der 2009 vom Gericht in Messina beauftragt worden war, die Situation der Familie zu überwachen, begann jedoch erst im Juli 2010 damit und traf das Kind zwischen Juli 2010 und November 2010 nur fünfmal.

 

69. Zwischen 2011 und 2014 konnte der Antragsteller sein Kind trotz seiner Anträge auf Umgangsrecht und trotz der Vollstreckung früherer Entscheidungen des Gerichts von Messina nie sehen. Der Sozialdienst erkannte zwar an, wie wichtig es ist, die Beziehungen zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter aufrechtzuerhalten, traf sich aber im Jahr 2014 nur dreimal mit dem Kind und teilte dem Gericht mit, dass das Kind diese Treffen ablehnte.

 

70. Angesichts der Weigerung des Kindes beschloss das Gericht in Mailand 2014, ohne die Notwendigkeit der Anordnung eines psychologischen Gutachtens für das Kind zu prüfen, A.L.R. das alleinige Sorgerecht zuzusprechen.

 

71. Das Gericht stellt fest, dass die Klägerin am 13. Mai 2015 Berufung eingelegt hat, die erste Anhörung vor dem Berufungsgericht aber erst sechs Monate später, im Januar 2016, anberaumt und dann auf Mai 2016 verschoben wurde. Die Mailänder Sozialdienste gaben eine negative Stellungnahme zur Notwendigkeit eines Familienmediationsverfahrens ab, und im Dezember 2016 wies das Berufungsgericht, nachdem es die Parteien aufgefordert hatte, ihr Verhalten zu überdenken, die Berufung des Antragstellers zurück, da es der Ansicht war, dass die Verantwortung zwischen ihm und A.L.R. geteilt wurde, sowie den Antrag auf Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen A.L.R. (siehe Ziffer 41 oben).

 

72. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es ihm nicht zusteht, seine Beurteilung der Frage, welche Maßnahmen hätten ergriffen werden müssen, an die Stelle der zuständigen nationalen Behörden zu setzen, da diese grundsätzlich besser in der Lage sind, eine solche Beurteilung vorzunehmen, insbesondere weil sie in unmittelbarem Kontakt mit dem Kontext des Falles und den beteiligten Parteien stehen (siehe Reigado Ramos, a. a. O., § 53). Im vorliegenden Fall kann sie jedoch den oben dargelegten Sachverhalt nicht außer Acht lassen (siehe oben, Randnrn. 64-71). Sie stellt insbesondere fest, dass der Antragsteller seit 2008 versucht, Kontakt zu seiner Tochter herzustellen, und dass die Behörden trotz verschiedener Entscheidungen des Jugendgerichts und des Vormundschaftsrichters keine Lösung gefunden haben, die es ihm ermöglicht, sein Umgangsrecht regelmäßig auszuüben. Der Antragsteller konnte dieses Recht bis 2008 nur in sehr begrenztem Umfang wahrnehmen. Die Warnung des Gerichts von Messina hatte keine Wirkung auf A.L.R., der den Antragsteller weiterhin an der Ausübung seines Umgangsrechts hinderte und sogar ohne Zustimmung des Antragstellers und der Gerichte tausend Kilometer weit weg zog.

 

73. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Behörden im vorliegenden Fall mit einer sehr schwierigen Situation konfrontiert waren, die sich insbesondere aus den Spannungen zwischen den Eltern des Kindes ergab. Es räumt ein, dass die Unfähigkeit des Antragstellers, sein Umgangsrecht auszuüben, zunächst hauptsächlich auf die offensichtliche Weigerung der Mutter des Kindes, dann auf die Weigerung des Kindes und die Entfernung zwischen dem Wohnort des Kindes und dem des Klägers zurückzuführen war. Er erinnert jedoch daran, dass ein Mangel an Zusammenarbeit zwischen den getrennten Eltern die zuständigen Behörden nicht davon entbinden kann, alle möglichen Mittel einzusetzen, um die familiären Beziehungen aufrechtzuerhalten (siehe Nicolò Santilli, a.a.O., § 74, Lombardo, a.a.O., § 91, und Zavřel, a.a.O., § 52).

 

74. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Behörden im vorliegenden Fall nicht die gebotene Sorgfalt walten ließen und hinter dem zurückblieben, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnte. Sie ist insbesondere der Ansicht, dass die inländischen Gerichte keine geeigneten Maßnahmen ergriffen haben, um die Voraussetzungen für die vollständige Verwirklichung des Umgangsrechts des Vaters des Kindes zu schaffen (siehe Bondavalli, a.a.O., § 81, Macready gegen die Tschechische Republik, Nr. 4824/06 und 15512/08, § 66, 22. April 2010, Piazzi, a.a.O., § 61, und Strumia, a.a.O., § 122). Sie stellt insbesondere fest, dass die Sozialdienste in Mailand nach der Verlegung des Falles von Messina nach Mailand erst mit erheblicher Verzögerung tätig geworden sind und das Kind zwischen 2010 und 2016 nur achtmal getroffen haben.

 

75. Das Gericht ist der Auffassung, dass die inländischen Gerichte von Beginn der Trennung der Eltern an, als das Kind erst fünf Jahre alt war, keine konkreten und zweckdienlichen Maßnahmen zur Herstellung eines wirksamen Umgangs ergriffen haben, und stellt fest, dass sie dann etwa elf Jahre lang geduldet haben, dass das Verhalten der Mutter die Herstellung einer echten Beziehung zwischen dem Antragsteller und dem Kind verhindert hat. Sie stellt fest, dass der Verlauf des Verfahrens vor dem Gericht vielmehr eine Reihe automatischer und stereotyper Maßnahmen erkennen lässt, wie z. B. aufeinanderfolgende Auskunftsersuchen, die Übertragung der Überwachung der Familie an die Sozialdienste, verbunden mit der Verpflichtung dieser Dienste, das Umgangsrecht des Antragstellers zu organisieren und durchzusetzen (siehe Lombardo, a. a. O., § 92, und Piazzi, a. a. O., § 61). Die Sozialdienste haben ihrerseits zu spät gehandelt und die Gerichtsentscheidungen nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Auch wenn der Gerichtshof der Auffassung ist, dass das nach italienischem Recht zur Verfügung stehende rechtliche Instrumentarium ausreicht, um den beklagten Staat in die Lage zu versetzen, die Einhaltung seiner positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 der Konvention zu gewährleisten, ist festzustellen, dass die Behörden im vorliegenden Fall keine Maßnahmen gegen A.L.R. ergriffen haben. Darüber hinaus erlaubten sie ihm, ohne seine Zustimmung oder die des Gerichts mehr als tausend Kilometer vom Wohnort des Klägers entfernt umzuziehen; insbesondere haben sie sich mit dem Kläger nicht vorher auf einen gemeinsamen Erziehungsplan geeinigt oder ihn dem Gericht zur Genehmigung vorgelegt. Danach ergriffen die Behörden weder Maßnahmen, um den Umzug zu verhindern, noch setzten sie die früheren Entscheidungen des Gerichts von Messina durch, mit denen dem Kläger Zugang gewährt wurde. Außerdem stellt sie fest, dass A.L.R. mehrere Strafanzeigen eingereicht hat, die teilweise zurückgezogen und teilweise abgewiesen wurden (siehe Ziffern 5, 9 und 23). Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die Behörden die Konsolidierung einer Situation zugelassen haben, die sich in der Tat unter Missachtung der gerichtlichen Entscheidungen entwickelt hat. Als die Behörden feststellten, dass der Minderjährige sich weigerte, den Antragsteller zu treffen, setzten sie das Umgangsrecht aus, anstatt das Kind zu ermutigen, und überließen die Organisation der Treffen der Initiative der Parteien.

 

76. Der Gerichtshof stellt fest, dass die nationalen Behörden im vorliegenden Fall angesichts des seit 2008 anhaltenden Widerstands der Mutter des Kindes und der Schwierigkeiten des Beschwerdeführers, sein Umgangsrecht auszuüben, nicht unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen haben, die vernünftigerweise verlangt werden konnten, um die Achtung des Rechts des Beschwerdeführers auf Umgang mit seiner Tochter und auf Herstellung einer Beziehung zu gewährleisten (vgl. Strumia, a. a. O., § 123).

 

77. Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass sich die inländischen Gerichte in ihren letzten Entscheidungen über die Ausübung der elterlichen Rechte ausschließlich auf die Stellungnahme des Sozialdienstes und auf die Weigerung des Kindes gestützt haben, den Antragsteller, den es seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, zu treffen. Das Gericht stellt fest, dass es sich nicht auf die vom Antragsteller wiederholt angeforderten Sachverständigengutachten gestützt und keine psychotherapeutische Unterstützung für das Kind und seine Eltern angeordnet hat.

 

78. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Entscheidungen des Mailänder Jugendgerichts und des Berufungsgerichts verspätet ergangen sind. Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass er im Rahmen von Artikel 8 der Konvention die Dauer des Entscheidungsprozesses der inländischen Behörden sowie die Dauer der damit verbundenen Gerichtsverfahren berücksichtigen kann. Es besteht immer die Gefahr, dass eine Verzögerung des Verfahrens in einem solchen Fall zu einer vollendeten Tatsache in der strittigen Frage führt. Die tatsächliche Achtung des Familienlebens erfordert, dass die künftigen Beziehungen zwischen Eltern und Kind allein auf der Grundlage aller relevanten Faktoren und nicht einfach durch den Zeitablauf geregelt werden (W. v. Vereinigtes Königreich, 8. Juli 1987, §§ 64-65, Series A no. 121, Covezzi und Morselli gegen Italien, no. 52763/99, § 136, 9. Mai 2003, Solarino gegen Italien, no. 76171/13, § 39, 9. Februar 2017, und D'Alconzo gegen Italien, no. 64297/12, § 64, 23. Februar 2017).

 

79. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass beim Erlass einer Entscheidung, die die durch Artikel 8 der Konvention garantierten Rechte berührt, größere Sorgfalt und Schnelligkeit erforderlich sind. Was in dem Verfahren für die Klägerin auf dem Spiel stand, erforderte eine dringende Behandlung, da das Verstreichen der Zeit irreparable Folgen für die Beziehung zwischen dem Kind und seinem Vater, der nicht mit ihr zusammenlebte, hätte haben können. Der Gerichtshof erinnert daran, dass der Abbruch des Kontakts zu einem Kind in einem sehr jungen Alter zu einer zunehmenden Verschlechterung der Beziehung zwischen dem Kind und seinem Elternteil führen kann. In diesem Zusammenhang stellt sie fest, dass der Kassationsgerichtshof lediglich die Entscheidungen über die Aussetzung des Umgangsrechts des Antragstellers bestätigt hat, ohne festzustellen, dass die psychologische Nachbetreuung, auf die er sich bezog, nicht gerichtlich angeordnet worden war (siehe oben, Randnr. 43).

 

80. In Anbetracht dessen und ungeachtet des Ermessensspielraums des beklagten Staates ist das Gericht der Ansicht, dass die nationalen Behörden keine angemessenen und ausreichenden Anstrengungen unternommen haben, um die Achtung des Umgangsrechts des Klägers zu gewährleisten, und dass sie sein Recht auf Achtung seines Familienlebens missachtet haben.

 

81. Es liegt also eine Verletzung von Artikel 8 der Konvention vor.

 

II. ÜBER DIE ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DES ÜBEREINKOMMENS

 

82. Gemäß Artikel 41 des Übereinkommens :

 

« Stellt der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention oder der dazugehörigen Protokolle fest und erlaubt das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine teilweise Wiedergutmachung der Folgen dieser Verletzung, so gewährt der Gerichtshof der geschädigten Partei gegebenenfalls eine gerechte Entschädigung.. »

 

 

A. Immaterieller Schaden

 

83. Der Antragsteller verlangte 35.000 Euro (EUR) als Ersatz für den immateriellen Schaden, den er dadurch erlitten habe, dass er seit 2008 keine Beziehung mehr zu seiner Tochter habe pflegen können.

 

84. Die Regierung bestritt die Ansprüche des Antragstellers und behauptete, der immaterielle Schaden sei nicht nachgewiesen worden.

 

85. Das Gericht ist der Ansicht, dass der Antragsteller einen immateriellen Schaden erlitten hat, der nicht allein durch die Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 8 der Konvention ausgeglichen werden kann. Sie ist jedoch der Ansicht, dass der in diesem Zusammenhang geforderte Betrag überhöht ist. Unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Beweise und nach dem Grundsatz der Billigkeit, wie er in Artikel 41 des Übereinkommens vorgesehen ist, sprach es der Klägerin hierfür einen Betrag von 15 000 Euro zu.

 

B. Kosten und Ausgaben

 

86. Der Antragsteller verlangte 5.000 Euro für die Kosten und Auslagen des Verfahrens vor dem Gericht.

 

87. Die Regierung bestritt das Vorbringen des Antragstellers.

 

88. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Antragsteller die Erstattung seiner Kosten und Auslagen nur insoweit verlangen, als nachgewiesen wird, dass sie tatsächlich angefallen sind, dass sie notwendig waren und dass sie angemessen waren. Im vorliegenden Fall weist das Gericht den Antrag auf Erstattung von Kosten und Auslagen zurück, da der Antragsteller hierfür keine Beweise vorgelegt hat.

 

 

C. Verzugszinsen

 

 

89. Der Hof hält es für angemessen, den Verzugszinssatz auf der Grundlage des Zinssatzes für die Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zu berechnen.

 

 

AUS DIESEN GRÜNDEN HAT DAS GERICHT EINSTIMMIG ENTSCHIEDEN,

 

1. Die Klage wird für zulässig erklärt;

2. stellt fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 des Übereinkommens vorliegt;

3. Stellt fest,

(a) dass der beklagte Staat dem Antragsteller innerhalb von drei Monaten 15.000 (fünfzehntausend) Euro zuzüglich etwaiger darauf zu entrichtender Steuern als Ersatz des immateriellen Schadens zu zahlen hat

(b) dass vom Ablauf dieser Frist bis zur Zahlung auf diesen Betrag einfache Zinsen zu einem Satz erhoben werden, der der während dieses Zeitraums geltenden Spitzenrefinanzierungsfazilität der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

4. Im Übrigen wird die Klage auf gerechte Entschädigung abgewiesen.

 

Geschehen in französischer Sprache und schriftlich übermittelt am 7. Oktober 2021 gemäß Artikel 77 §§ 2 und 3 der Geschäftsordnung.

 

 

Liv Tigerstedt, Stellvertretender Kanzler                              Péter Paczolay, Président